Fehlerhafte Sozialauswahl bei Kündigung und Rentennähe

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Überblick

Fehlerhafte Sozialauswahl bei Kündigung und Rentennähe

Wenn ein Arbeitgeber betriebsbedingt kündigt, darf er nicht einfach frei entscheiden, welcher Arbeitnehmer gehen muss. Das Kündigungsschutzgesetz schreibt in § 1 Abs. 3  die sogenannte soziale Auswahl vor. Hierbei geht es um eine Abwägung verschiedener Kriterien: Lebensalter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung. Aber was passiert, wenn diese Abwägung fehlerhaft ist? In einem wichtigen Urteil (Bundesarbeitsgericht Urteil vom 08.12.2022 – 6 AZR 31/22) hat das Bundesarbeitsgericht nun sich mit der Frage auseinandergesetzt, welche rechtliche Bedeutung es hat, wenn Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einbezogen werden, die kurz vor der Rente stehen (Rentennähe).  

Dieser Beitrag erklärt verständlich, wann eine fehlerhafte Sozialauswahl bei Kündigung vorliegt, warum gerade die Nähe zur Rente ein schwieriges Thema ist und was Arbeitnehmer wie Arbeitgeber beachten müssen.

 

Was versteht man unter einer fehlerhaften Sozialauswahl bei Kündigung?

Eine Sozialauswahl wird immer dann relevant, wenn der Arbeitgeber eine betriebsbedingte Kündigung ausspricht. Denn in solchen Fällen ist er verpflichtet, soziale Gesichtspunkte zu berücksichtigen und darf nicht frei bestimmen, wen er entlässt. Ziel ist es, denjenigen Mitarbeiter auszuwählen, der im Vergleich zu seinen Kollegen am wenigsten schutzbedürftig ist.

Damit eine Sozialauswahl korrekt abläuft, geht der Arbeitgeber in mehreren Schritten vor:

  1. Bildung einer Vergleichsgruppe: Zunächst muss er feststellen, welche Arbeitnehmer austauschbare Tätigkeiten verrichten. Austauschbar bedeutet: Sie können die Stelle des jeweils anderen aufgrund ihrer Qualifikation oder nach einer kurzen Einarbeitung übernehmen.
  2. Erhebung der Sozialdaten: Innerhalb dieser Vergleichsgruppe werden dann die relevanten Daten ermittelt: Alter, Dauer der Betriebszugehörigkeit, familiäre Unterhaltspflichten und eine mögliche Schwerbehinderung.
  3. Bewertung und Abwägung: Diese Daten werden gegeneinander abgewogen – häufig mit Hilfe eines Punkteschemas oder einer Liste. Am Ende muss nachvollziehbar sein, warum gerade der eine Mitarbeiter als „sozial am wenigsten schutzwürdig“ gilt.

Eine fehlerhafte Sozialauswahl bei Kündigung liegt vor, wenn dieser Prozess nicht ordnungsgemäß durchgeführt wird. Typische Fehlerquellen sind:

  • Die Vergleichsgruppe wird falsch oder zu eng definiert.
  • Bestimmte Sozialdaten werden übersehen oder nicht ausreichend gewichtet.
  • Ein einzelnes Kriterium – etwa die Rentennähe – wird so stark betont, dass andere Gesichtspunkte praktisch keine Rolle mehr spielen.

In solchen Fällen greifen die Gerichte ein. Wird im Prozess eine fehlerhafte Sozialauswahl festgestellt, ist die Kündigung regelmäßig unwirksam – genau das zeigt auch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 08.12.2022 – 6 AZR 31/22.

 

Warum spielte die fehlerhafte Sozialauswahl bei Kündigung in dem Fall des Bundesarbeitsgerichts eine Rolle?

Im zugrunde liegenden Fall war die Klägerin seit 1972 als Sachbearbeiterin in der Vertriebslogistik ununterbrochen beschäftigt. Sie gehörte dem Jahrgang 1957 an und hätte ab Dezember 2020 Anspruch auf eine abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte gehabt. Damit stand sie nur noch wenige Monate vor dem Renteneintritt.

Das Unternehmen geriet in Insolvenz, und der Insolvenzverwalter musste zahlreiche Kündigungen aussprechen. Gemeinsam mit dem Betriebsrat erstellte er einen Interessenausgleich mit Namensliste. Auf dieser Liste befand sich auch die Klägerin – obwohl sie mit fast fünf Jahrzehnten Betriebszugehörigkeit eigentlich einen hohen sozialen Besitzstand hatte.

Die Begründung des Arbeitgebers war: Aufgrund der Rentennähe sei die Klägerin weniger schutzwürdig als jüngere Kollegen. Diese hätten noch viele Jahre im Berufsleben vor sich und könnten nicht ohne weiteres auf eine Rente zurückgreifen. Die Klägerin dagegen könne nach Ende des Arbeitsverhältnisses unmittelbar in die Altersrente wechseln und sei damit besser abgesichert.

Die Arbeitnehmerin akzeptierte diese Argumentation nicht und erhob Kündigungsschutzklage. Nach zwei Instanzen (Arbeitsgericht Dortmung Urteil vom 09.12.2020 – 10 Ca 1380/20 und Landesarbeitsgericht Hamm Urteil vom 03.09.2021 – 16 Sa 152/21)  kam der Fall schließlich vor das Bundesarbeitsgericht. Der Arbeitgeber hatte zwei betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen. Die erste Kündigung war unwirksam, weil die Auswahlentscheidung fast ausschließlich auf die Rentennähe gestützt war. Andere Kriterien – wie fast fünf Jahrzehnte Betriebszugehörigkeit oder mögliche Unterhaltspflichten – wurden nicht angemessen berücksichtigt. Das stellte eine fehlerhafte Sozialauswahl bei Kündigung dar.

Die zweite Kündigung, die einige Monate später ausgesprochen wurde, war dagegen wirksam. Dort hatte der Arbeitgeber die Sozialdaten erneut erhoben und diesmal eine ausgewogenere Abwägung vorgenommen.

Was zeigt dieser Fall?

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts verdeutlicht, wie schnell eine fehlerhafte Sozialauswahl bei Kündigung entstehen kann:

  • Rentennähe ist ein zulässiges Kriterium, sie darf aber nicht den Ausschlag geben, wenn andere Faktoren wie Betriebszugehörigkeit oder Unterhaltspflichten komplett in den Hintergrund geraten.
  • Grober Fehler = Unwirksamkeit: Gerichte greifen dann ein, wenn die Abwägung einseitig ist und die Entscheidung nicht mehr plausibel begründet werden kann.
  • Dokumentation ist Pflicht: Arbeitgeber müssen belegen können, dass sie alle vier Kriterien (§ 1 Abs. 3 KSchG) in die Entscheidung einbezogen haben.

 

Darf Rentennähe bei der Sozialauswahl berücksichtigt werden oder führt das zur fehlerhaften Kündigung?

Die Frage, ob die Nähe zum Rentenalter in die Sozialauswahl einbezogen werden darf, ist seit Jahren umstritten. Mit diesem Urteil hat das Bundesarbeitsgericht dazu nun deutlich Stellung bezogen. Grundsätzlich ist es zulässig, die Rentennähe als Kriterium zu berücksichtigen. Wer bereits eine abschlagsfreie Altersrente beziehen kann oder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses dazu berechtigt wäre, gilt nach der Rechtsprechung als weniger schutzwürdig. Die Überlegung dahinter ist einfach: Ein Arbeitnehmer, der direkt in die Rente wechseln kann, steht nicht vor der gleichen existenziellen Unsicherheit wie ein jüngerer Kollege, der noch viele Jahre auf Erwerbseinkommen angewiesen ist.

Allerdings bedeutet das nicht, dass die Rentennähe die Entscheidung allein tragen darf. Eine Kündigung, die fast ausschließlich darauf gestützt wird, ist eine fehlerhafte Sozialauswahl bei Kündigung. Das Gesetz verlangt eine Abwägung aller vier Kriterien – Alter, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung. Wird eines dieser Kriterien vernachlässigt oder gar ignoriert, liegt ein grober Fehler vor, der die Kündigung unwirksam macht. Genau das war hier der Knackpunkt: Die Rentennähe der Klägerin wurde in der ersten Kündigung so stark betont, dass ihre jahrzehntelange Betriebszugehörigkeit praktisch keine Rolle mehr spielte.

Besonders wichtig ist auch die Ausnahme, die das Gericht ausdrücklich hervorgehoben hat: Bei der Altersrente für schwerbehinderte Menschen darf die Rentennähe nicht in gleicher Weise negativ berücksichtigt werden. Andernfalls würde eine Schutzregelung, die gerade der besonderen Lage schwerbehinderter Arbeitnehmer dienen soll, ins Gegenteil verkehrt.

Für die Praxis bedeutet das: Arbeitgeber können sich zwar auf die Rentennähe berufen, müssen aber immer die Gesamtabwägung vornehmen und diese nachvollziehbar dokumentieren. Arbeitnehmer wiederum sollten nicht vorschnell annehmen, dass eine Kündigung wegen Rentennähe automatisch wirksam ist. Gerade wenn die Entscheidung allein auf das Alter und den bevorstehenden Renteneintritt gestützt wird, bestehen gute Chancen, im Kündigungsschutzverfahren die Unwirksamkeit durchzusetzen.

Damit macht das Urteil des Bundesarbeitsgerichts deutlich: Rentennähe ist nur ein Puzzlestück in der Sozialauswahl. Wird daraus aber das einzige oder entscheidende Kriterium gemacht, handelt es sich um eine fehlerhafte Sozialauswahl bei Kündigung.

 

Wann sprechen Gerichte von einer fehlerhaften Sozialauswahl bei Kündigung?

Die Sozialauswahl ist kein mathematisches Rechenmodell, sondern eine rechtliche Abwägung. Arbeitgeber haben dabei einen gewissen Spielraum, den das Gesetz ausdrücklich zulässt. Sie müssen die sozialen Gesichtspunkte „ausreichend“ berücksichtigen, nicht aber auf die Nachkommastelle genau berechnen. Dennoch gibt es klare Grenzen, bei deren Überschreitung die Gerichte eingreifen. Von einer fehlerhaften Sozialauswahl bei Kündigung sprechen die Arbeitsgerichte immer dann, wenn die Entscheidung offensichtlich unausgewogen oder grob unsachlich ist.

Eine solche Konstellation, die häufig zur Unwirksamkeit führt, ist die fehlerhafte Bildung der Vergleichsgruppe. Werden Arbeitnehmer miteinander verglichen, die gar nicht austauschbar sind, ist die gesamte Sozialauswahl unbrauchbar. Vergleichbar sind nur diejenigen Mitarbeiter, die sich gegenseitig auf ihren Arbeitsplätzen vertreten könnten – notfalls nach einer kurzen Einarbeitung. Wer hier zu weit oder zu eng ansetzt, riskiert ebenfalls eine gerichtliche Korrektur.

Auch mangelnde Dokumentation kann sich als fatal erweisen. Wenn der Arbeitgeber im Prozess nicht plausibel erklären kann, wie er zu seiner Entscheidung gekommen ist, gehen die Gerichte regelmäßig von einer fehlerhaften Sozialauswahl bei Kündigung aus. Ein bloßer Hinweis auf „betriebliche Notwendigkeiten“ genügt nicht. Vielmehr erwarten die Richter eine konkrete, nachvollziehbare Begründung, warum gerade dieser Arbeitnehmer weniger schutzwürdig sein soll als seine Kollegen.

Zusammengefasst lässt sich sagen: Gerichte greifen dann ein, wenn die Abwägung nicht mehr nachvollziehbar erscheint, wenn gesetzliche Kriterien ignoriert oder verzerrt angewendet wurden oder wenn der Arbeitgeber seine Entscheidung nicht sauber belegen kann. In solchen Fällen ist die Kündigung unwirksam – und das Arbeitsverhältnis besteht fort.

 

Welche Chancen haben Arbeitnehmer bei einer fehlerhaften Sozialauswahl im Kündigungsschutzprozess?

Für Arbeitnehmer kann eine fehlerhafte Sozialauswahl die entscheidende Rettungsleine sein. Wer eine betriebsbedingte Kündigung erhält, sollte genau prüfen – oder prüfen lassen –, ob die Auswahlentscheidung tatsächlich nachvollziehbar getroffen wurde. Denn die Erfahrung aus der Praxis zeigt: Viele Arbeitgeber machen bei der Sozialauswahl Fehler, und diese führen direkt zur Unwirksamkeit der Kündigung.

Nehmen wir als Beispiel einen Familienvater, der seit über 20 Jahren im Unternehmen arbeitet und drei unterhaltsberechtigte Kinder hat. Wenn der Arbeitgeber ihm kündigt, aber einen jüngeren Kollegen ohne Kinder und mit deutlich kürzerer Betriebszugehörigkeit im Betrieb behält, liegt der Verdacht einer fehlerhaften Sozialauswahl bei Kündigung nahe. In einem Kündigungsschutzverfahren könnte das Gericht feststellen, dass die Unterhaltspflichten und die lange Betriebszugehörigkeit des Familienvaters nicht ausreichend berücksichtigt wurden – und die Kündigung wäre unwirksam.

Ein anderes Beispiel: Eine Arbeitnehmerin ist schwerbehindert und seit zehn Jahren im Betrieb tätig. Der Arbeitgeber kündigt ihr und behält eine Kollegin mit gleicher Tätigkeit, aber nur drei Jahren Betriebszugehörigkeit und ohne Behinderung. Auch hier ist die Abwägung angreifbar. Gerichte prüfen dann sehr genau, ob der besondere Schutzstatus der schwerbehinderten Arbeitnehmerin berücksichtigt wurde. Wird dieser Gesichtspunkt übergangen, handelt es sich ebenfalls um eine fehlerhafte Sozialauswahl bei Kündigung.

Für Arbeitnehmer ist wichtig zu wissen, dass die Zeit drängt: Eine Kündigungsschutzklage muss innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung beim Arbeitsgericht eingereicht werden. Wer diese Frist versäumt, hat selbst dann kaum noch Chancen, wenn die Sozialauswahl eindeutig fehlerhaft war. Deshalb ist es entscheidend, schnell zu reagieren und die eigenen Sozialdaten – etwa Unterhaltspflichten, Dauer der Beschäftigung und gesundheitliche Einschränkungen – gleich zu Beginn auf den Tisch zu legen.

Die Chancen im Prozess sind dabei keineswegs gering. Gerade weil Arbeitgeber die Sozialauswahl nachvollziehbar dokumentieren müssen, können Arbeitnehmer häufig aufzeigen, dass die Kriterien nicht vollständig oder nicht korrekt berücksichtigt wurden. Und sobald ein Gericht eine grobe Fehlerhaftigkeit feststellt, steht fest: Die Kündigung ist unwirksam, das Arbeitsverhältnis besteht fort.

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