Wenn Urteile veröffentlicht werden

Urteil veröffentlicht. Arbeitnehmer klagt und verliert.

Überblick

Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat mit Urteil vom 31.03.2022 (Verwaltungsgericht Stuttgart, Urteil vom 31.03.2022, 1 K 6043/20) entschieden, dass ein Gerichtsurteil veröffentlicht werden darf, auch wenn eine der Parteien dadurch ohne größeren Aufwand mit Hilfe anderer Informationen identifiziert werden kann. Voraussetzung hierfür ist ein überwiegendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit.

Urteil veröffentlicht. Arbeitnehmer klagt.

Im vorliegenden Fall richtete sich die Klage gegen die Veröffentlichung eines Urteils, dem eine Kündigungsschutzklage voranging. Dieses Urteil wurde vom Arbeitsgericht auf den gängigen juristischen Portalen veröffentlicht. Wie üblich wurden bei der Veröffentlichung die vollständigen Namen der Parteien und Ortsangaben bis auf den Anfangsbuchstaben entfernt. Datumsangaben blieben bis auf das Geburtsdatum unverändert.

Dem Kläger ging eine solche Anonymisierung nicht weit genug und er begehrte nach Art. 17 Abs. 1 Buchst. a und d der Datenschutzgrundverordnung die Löschung. So sei aus Sicht des Klägers durch die veröffentlichten Angaben zu seinem Lebenslauf und zu seiner Behinderung, ein Rückschluss auf seine Person problemlos möglich. Außerdem sei die veröffentlichte Entscheidung in der Revision aufgehoben worden.

Das Gericht kam zu dem Entschluss, dass die Veröffentlichung rechtmäßig gewesen ist und wies den Antrag des Klägers auf Löschung ab. Zur Begründung führte das Gericht u. a. an, dass unabhängig davon, ob die vorgenommene Anonymisierung ausreichend sei, jedenfalls das Informationsinteresse der Öffentlichkeit an dem Inhalt des Urteils überwiege. Die Angabe der Informationen zum Lebenslauf und zur Behinderung sei notwendig gewesen um das Urteil nachvollziehen zu können. Zudem sei das Urteil eine obergerichtliche Leitsatzentscheidung, die der Rechtsfortbildung diene.

 

Dürfen Urteile veröffentlicht werden?

Grundsätzlich ja. Laut Bundesverfassungsgericht sind Gerichtsentscheidungen jedoch hinsichtlich persönlicher Angaben und Umstände in der Regel zu anonymisieren (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14.09.2015 – 1 BvR 857/15). Damit wird den Grundrechten der Beteiligten auf Achtung des Privatlebens, auf Schutz personenbezogener Daten, sowie datenschutzrechtlichen Anforderungen entsprochen.

 

Wie stark müssen Urteile anonymisiert werden?

Dies ist – wie so oft in der Rechtspraxis – einzelfallabhängig. In der Regel entfernen die Gerichte – wie auch im vorliegenden Fall – zumindest die vollständigen Namen der Parteien und Ortsangaben bis auf den Anfangsbuchstaben. Datumsangaben bleiben hingegen bis auf das Geburtsdatum meist unverändert. Ob eine darüberhinausgehende Anonymisierung erforderlich ist, hat das Gericht in einer Abwägung zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und den persönlichen Rechtsgütern der Beteiligten zu entscheiden.

Eine Anonymisierung muss jedenfalls nicht stets in einem solchen Umfang vorgenommen werden, dass jegliche Möglichkeit Rückschlüsse auf die Beteiligten ziehen zu können, ausgeschlossen wird. Dies lässt sich schon deshalb nicht gänzlich vermeiden, weil die meisten Gerichtsverfahren öffentlich stattfinden.

Vor dem Hintergrund wird beispielsweise ein medienwirksamer Prozess, in dem ein Großkonzern als Beteiligter auftritt, in der Regel anders zu bewerten sein, als ein Prozess in dem Details aus der Intimsphäre eines Durchschnittsbürgers bekannt werden.

 

Warum ist es wichtig Urteile zu veröffentlichen?

Der Kerngedanke:
Zu einem demokratischen Rechtsstaat gehört eine öffentliche Justiz, die gerichtliche Entscheidungen publiziert. Dies sorgt für Transparenz und Teilhabe.

Da unsere Rechtsordnung zunehmend komplexer wird, ist es für den Bürger wichtig zu wissen, welche Rechte und Pflichten er hat und wie seine Chancen vor Gericht stehen. Hierzu ist es unabdingbar zu erfahren wie Gerichte das Recht auslegen und wie sie in bestimmten Fällen entscheiden.

Die Bürger erhalten damit die Möglichkeit, Rechtsentwicklungen bzw. Fehlentwicklungen zu erkennen und zu hinterfragen, um auf diese dann z. B. mit demokratischen Mitteln (Gesetzesänderungen) reagieren zu können.

Insoweit spricht das Bundesverwaltungsgericht sogar von einer Obliegenheit der Gerichte, Entscheidungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Zudem könnten Rechtsanwälte auch ohne die Veröffentlichungen sich nicht in der Rechtsprechung orientieren. Dies wiederum würde sich negativ auf die Wahrnehmung der Rechte ihrer Mandanten auswirken.

 

Wie viele Entscheidungen werden in Deutschland pro Jahr veröffentlicht?

Trotz der o. g. Obliegenheit der Gerichte, Entscheidungen zu veröffentlichen, zeigt eine im Jahr 2021 vorgestellte Studie[1], dass nur knapp 1% aller erstinstanzlichen Gerichtsentscheidungen in Deutschland veröffentlicht werden. Zum Vergleich: In der chinesischen Provinz Sichuan (ähnlich viele Einwohner wie Deutschland) wurden in den Jahren 2015/16 mehr als 54,2% der erstinstanzlichen Strafurteile veröffentlicht.

Laut der Studie ist die vergleichsweise geringe Veröffentlichungsdichte im Wesentlichen auf zwei Gründe zurückzuführen: Zum einen scheuen die Gerichte den vermeintlichen Anonymisierungsaufwand und zum anderen empfinden sie viele Entscheidungen als nicht „veröffentlichungswürdig“. 

Dies wird zum Anlass genommen um Kritik an der Veröffentlichungspraxis zu üben, insbesondere im Hinblick auf Transparenz und Teilhabe.


[1] „Der blinde Fleck der deutschen Rechtswissenschaft – Zur digitalen Verfügbarkeit
instanzgerichtlicher Rechtsprechung“, Dr. Dr. Hanjo Hamann, Berlin/Bonn, Juristenzeitung
13/2021